Ohne Tresen und Medikamente…

Ein Interview mit Maria Illgen zu `Clean Language´ mit Ulrike Schmidt

Liebe Maria,

von der Apothekerin zur Shiatsupraktikerin… bzw. von der Naturwissenschaft hin zum scheinbaren Gegenteil, der Welt des Spürens, der `Nichtbeweisbarkeit´ und der Weitergabe von Erfahrungen aus Jahrhunderten – wie war Dein Weg dahin…?

Die Naturwissenschaft lebt von solch einer großen Neugierde, die Welt zu entdecken. Ich wollte – wie jedes Kind – die Welt erforschen und begreifen und habe bei meinen Eltern und in der Schule vor allem im Bereich der naturwissenschaftlichen und – ganz selten auch – im Bereich der philosophischen Fragen Gesprächspartner gefunden. Ich finde es toll, mich den Dingen, die mein Interesse wecken, schrittweise zu nähern, sie anzuschauen, zu fühlen, nachzudenken, auszuprobieren, zu experimentieren und überrascht zu sein, was passieren kann. Und wenn ich einen mathematischen Beweis geführt habe oder ein physikalisches Phänomen herleiten konnte, war ich glücklich. Als Apothekerin habe ich gelernt, wie schön die Arbeit mit Menschen ist. Ich habe angefangen zu fragen: Was ist es, was du jetzt wirklich brauchst? Und habe dann gemerkt, wie viel lieber ich das ohne Tresen und Medikamente mache.

Das Wunder und das Wundern und Nicht-Wissen ist mit dem Shiatsu stärker und neu aufgelebt. Und nicht wissen zu müssen und weiter neugierig fragen zu dürfen, ist ein Wunder für mich.

Dianne Connelly* prägte einmal die Formulierung vom „very deep unknowing“ – wo würdest Du Dich selbst einordnen in dem Spannungsfeld zwischen der herkömmlichen TCM und Shiatsu als eine Methode, die genau dort ihre Wurzeln hat.

Ich wähle mein Zuhause oft im Nicht-Wissen. Wobei ich genau weiß, dass ich dafür eine große Basis aus Wissen und Erfahrung gesammelt habe… Ich mag die individuellen Wege, individuellen Wahrheiten, das Offenbleiben, Experimentieren und dann für mich stehen.

Können wir im Shiatsu auf Wissen verzichten?

Nein. Das denke ich nicht. Neulich habe ich von Alice Whieldon** gehört, wie uns die Geschichte des Shiatsu einen Halt gibt, in dem, was wir tun. Ich denke, das Wissen kann uns die Sicherheit geben, aus der heraus wir uns selbst vertrauen können, mit dem was wir tun. Und gleichzeitig ist es gut, das, was wir gelernt haben, immer wieder einmal zu hinterfragen. Da sind wir wieder bei der Offenheit und Neugierde, dem Staunen, dem Wunder, ohne das Shiatsu langweilig würde. Für beide: für die Praktikerin und für die Klientin. Und dann entsteht wieder Raum für neue Erfahrungen und neues Wissen.

Bei Dir gab es eine Weiterentwicklung vom Shiatsu in Richtung Seiki, welches ja auch im Shiatsu wurzelt – was kann Seiki, dass Shiatsu nicht hat?

Seiki kann Nicht-Tun. Seiki kann für mich Shiatsu sein, und es kann auch einfach mal abwarten, die Leere wahrnehmen und den nächsten Impuls ganz langsam kommen und vielleicht sogar vorbeiziehen lassen. Ich habe das Gefühl, beim Seiki gibt es keine Aufgabe mehr. Was natürlich auch nicht ganz stimmt. Auch Seiki braucht einen Rahmen, eine Form, eine Sicherheit…

Shiatsu ist ja eine ganz klassische Körperarbeitsmethode – welchen Sinn machen zusätzliche Gesprächskompetenzen `drumherum´? Viele Shiatsupraktiker und Shiatsupraktikerinnen möchten ja gar keine `Gesprächstherapeuten´ werden…

Ich muss nicht viel sprechen beim Shiatsu. Aber wenn ich spreche, dann ist es sinnvoll in der gleichen Achtsamkeit zu bleiben, wie mit der Berührung. Viele Klientinnen sprechen selbst. Wenn sie kommen, erzählen sie, was bei ihnen los ist, was sie stört und was sie sich wünschen. Das finde ich ziemlich gut. Denn unser Alltag ist wortbasiert. Die Worte können eine Brücke zum Körper hin bauen, wenn wir aufmerksam dafür sind. Und nach der Behandlung auch wieder zurück zum Alltäglichen.

Ich ahne, das `Clean Language´ viel damit zu tun hat, Verbindungen mit dem Körper und auch dem Bewusstsein, oder besser gesagt, eine erneute Rück-Anbindung herzustellen? Kannst Du das Thema ein wenig weiter ausführen…?

Die Frage muss ich erstmal wirken lassen… Ja, die Verbindung von Körper und Bewusstsein ist das, was `Clean Language´ kann. Das Erinnern an das, was tief in uns stimmt. Spannend ist für mich, dass wir den Körper zum Bewusstsein sprechen lassen. Der Körper bekommt Fragen, die möglichst wenig vorgeben und suggerieren. Dann darf er antworten. Und wenn es der Körper schafft, Worte zu finden, dann hat der Verstand die Möglichkeit, dieses Körperwissen bewusster wahrzunehmen und weiter zu fragen.

Du gibst im Februar ’23 an der Berliner Schule für Zen Shiatsu einen Kurs zum Thema `Clean Language´. Was ist gegenüber den üblichen Gesprächspraktiken im Shiatsu – wie etwa gesunder Menschenverstand, Interesse am anderen, achtsames Zuhören und offenen Fragen – der Vorteil davon, sich mit `Clean Language´ zu beschäftigen?

Einige Shiatsupraktikerinnen, die Kurse bei mir gemacht haben, meinten, ihr Umgang und ihre Einstellung ihren Klientinnen gegenüber hätte sich dadurch sehr verändert. Sie sehen viel mehr die Perspektive und Welt der anderen. Wir nutzen im Shiatsu unter anderem das Modell der fünf Wandlungsphasen und können damit die Dinge, die wir während der Sitzung wahrnehmen gut einordnen. Unseren Klientinnen sagt das aber möglicherweise gar nichts. Sie haben vielleicht ihre eigenen Vorstellungen von den Zusammenhängen. Und auch ihr Körper weiß vieles selbst. Da tauchen manchmal Bilder, Töne, Metaphern auf. Mit `Clean Language´ können wir uns genau darauf einlassen und durch die Fragen, die wir stellen, erkennt die Klientin selbst ihren eigenen Sinn.

Du hast im letzten Jahr das Buch von Nick Pole aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt***. Inwieweit hast Du die Erfahrung gemacht, dass Du allein durch die Auseinandersetzung mit dem Text, dem Reiben an Formulierungen, dem Suchen nach genau der einen, treffenden Wortkombination, einen Lerngewinn erzielt hast?

So ein tolles Buch zu übersetzen war ein einmaliges Projekt! Es war eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema, mit dem Autor, Nick Pole, und mit mir selbst. Ich habe beim Übersetzen super viel gelernt. Mich hat zum Beispiel überrascht, wie unterschiedliche Sprachen an unterschiedlichen Punkten vage sind. Wenn eine Formulierung etwas ungenau ist und verschieden gelesen werden kann, ist das in einer anderen Sprache vielleicht nicht mehr möglich. Und dann muss ich mir darüber Gedanken machen, eventuell mit dem Autor philosophieren und entscheiden. „Mind“ ist beispielsweise ein Begriff, den ich immer wieder anders übersetzen musste. Und was ist das eigentlich, unser Verstand, unser Bewusstsein, unser Geist, unser Gewahrwerden …? Mit solchen Fragen habe ich viele Wochen verbracht.

Wie würdest Du das Lernziel im Kurs `Clean Language´ formulieren?

Die Teilnehmerinnen lernen die Grundlagen der Fragetechnik `Clean Language´ kennen, so dass sie Clean-Fragen in ihrer Praxis nutzen können. Teil dessen ist, in die Haltung des Nicht-Wissens hinein zu spüren. Wir schauen uns an, wie die Fragen schnell in Tiefe und Klarheit führen können. Wir probieren sie zum Einstieg vor der Behandlung, zu einzelnen Momenten während der Behandlung und auch als Abschlussfrage nach der Behandlung aus.

Liebe Maria, herzlichen Dank für das Interview!
Sehr gerne!

* Dianne Connelly ist vielen im deutschsprachigen Raum durch ihre Bücher „Traditionelle Akupunktur: Das Gesetz der Fünf Elemente“ und „Alles Weh ist Heimweh“ bekannt.
** Alice Whieldon unterrichtet Seiki, schreibt Bücher und Artikel.
*** „Worte, die berühren – Fragen, auf die dein Körper Antwort kennt“ von Nick Pole, erschien im Source of Performance Verlag.

Interview zu Clean Language