Berührung vor der Geburt und nach dem Sterben

Artikel von Maria Illgen, 2020

Körperarbeit bekommen und geben wir vor allem im Leben – genauer: irgendwann zwischen Geburt und Tod. Ich hatte einige wundervolle Erlebnisse von Berührung und Kontakt mit Menschen außerhalb dessen.

Zuerst der Moment, der dazu führte, dass ich Shiatsu- und dann Seiki-Praktikerin wurde.

Das magische Gefühl von Kontakt in der Berührung

Es hat wohl bei vielen Menschen, die Körperarbeit praktizieren, so einen Moment einer ganz besonderen Berührung gegeben. Der Kontakt, die Resonanz, die einen Menschen vollends bewegt, so dass er durch ein Tor schreitet in eine Welt, in der Berührung als Kontaktform eine wesentliche Rolle spielt. Berührung hat plötzlich etwas Besonderes, Kraftvolles oder sogar Magisches. Und er geht auf die Suche, diese Zauberwelt zu erkunden.

Ich hatte zwei-drei solcher wundervollen Berührungen mindestens, bevor ich es kapierte. Die stärkste war die Berührung, die Kommunikation durch Körperkontakt, mit meinem ungeborenen Sohn.

Berührung vor der Geburt

Viele Mütter erleben hier besondere Momente. Ich lade sie ein, diese Erfahrungen als echtes Wissen ernst zu nehmen.

Meine Hand lag auf meinem Bauch. Genau da, wo mein Sohn mich eben getreten hatte. Ganz langsam bewegte ich meine Hand zur Seite hin und sein Fuß folgte meiner Hand in genau dem gleichen Tempo den gleichen Weg an die gleiche Stelle. Oder war es andersherum, dass ich ihm folgte? Folgten wir beide einem gemeinsamen Impuls? Das kann ich nicht mehr sagen. Ich weiß aber: Er drückte mit immer stärkerer Kraft und ich hielt mit fast der gleichen Kraft meine Hand. Es gab eine extreme Ausbeulung, denn er legte seinen Fuß durch meine Bauchdecke hindurch in meine Hand und schien Freude daran zu haben.
Für mich war ganz klar erkennbar, dass das kein zufälliges Zusammentreffen zweier Ereignisse war. Es war ein gemeinsames Erlebnis – echte und deutliche Kommunikation über Berührung.

Mich durchströmte ein warmes Gefühl von Sonnenstrahlen von meinem Solarplexus in den Körper über die Handteller zu meinem Sohn.

Relevanz dieser Erfahrung für meine Körperarbeit:
Durch das Lernen von Shiatsu und Praktizieren von Seiki hat sich dieses körperliche Gefühl von Resonanz in viele Facetten aufgefächert, und ich kann damit arbeiten.

Dort kann es z.B. zwischen meinen beiden Händen oder einer Hand und der Klientin stattfinden. Es ändert sich mit dem Raum, inneren Abstand, Idee, Ausrichtung, Öffnung für spezifische Fragen, Ebenen… Das ist jedoch nicht der Fokus dieses Artikels.

In der körperbezogenen Arbeit, wird sehr viel am Atem festgemacht.

Ich halte an dieser Stelle kurz fest: Während dieses Kontaktes hat mein Sohn noch nicht geatmet.

In Berührung mit dem Sterben

Viele Jahre später – ich war Shiatsu-Praktikerin; mein Sohn des Hinspürens geschult – da zappelte sein Meerschweinchen im Sterben. Für mich ein kleines Erlebnis, das sich gut beobachten ließ.

Wir beide hielten es: jeder mit einer Hand. Wir saßen neben einander. Wir spürten die Atmung, den Herzschlag, die Bewegung des Tieres in unseren Händen. Spürten, dass die Atmung aufhörte, dass das Herz anhielt und die Bewegung. Und trotzdem saßen wir weiter da und hielten das Meerschweinchen gut und sicher. Es war ein sehr inniger Moment. Nicht nur zwischen meinem Sohn und mir, sondern auch zwischen uns dreien. Auch das Meerschweinchen konnte es gebrauchen, weiterhin gehalten zu sein.

Zumindest waren wir, mein Sohn und ich, darin einig.

Die Zeit verlief nicht linear, wir waren an der Grenze zur Unendlichkeit. Schätzen kann ich doch, dass wir vielleicht eine halbe Stunde so saßen.

Dann war es mein Großvater, der sich sicher war, mit neunzig Jahren genug gelebt zu haben. Er aß nicht mehr.

Ich besuchte ihn, dachte auch, er könnte noch etwas Berührung gebrauchen. Aber bis auf den herzlichen Händedruck, den wir tauschten, brauchte er nichts.

Er hatte einen Frieden im Raum. Er strahlte Zufriedenheit aus. Seine Hände legte er ruhig auf seinen Brustkorb und den Bauch. Ab und zu wechselten sie etwas die Position. Und es war alles richtig. Am nächsten Morgen ist er gestorben.

Relevanz für die Körperarbeit:

• Weder ein Glaube, z.B. religiöser Art, noch irgendein spezifisches Wissen waren nötig für diese Erfahrungen.
• Der Übergang zwischen Leben und Tod ist ein Prozess und lässt sich nicht auf einen Schlag festlegen.
• Sterben kann ein sehr bewusstes und intensives Erleben sein.
• Ganz einfache Gesten der Berührung können eine große Bedeutung haben.
• Im alltäglichen Leben gibt es diese intensiven Momente auch, sie werden nur weniger wertgeschätzt.
Aus der Erfahrung mit dem Meerschweinchen:
• Auch ohne ein sichtbares oder hörbares Feedback (Bewegung, Atmung, Puls) können wir klar im Kontakt sein.
Aus der Erfahrung mit dem Großvater:
• Auch ein Mensch in einer vermeintlich schwachen Situation (im Sterben) kann gut für sich selbst sorgen.
• In Resonanz kann ich auch Grenzen annehmen und bewusst auf Berührung verzichten.

Berührung nach dem Tod

Meine Großmutter lebte schon sehr lange allein und ist allein gestorben.

Als meine Großmutter gestorben war…, haben wir ein stilles Fest mit ihr gefeiert.
Zwischen Küche und Badezimmer lag sie erstaunlich lang und groß. Den Rücken fest wie eine Burg, den zarten Kopf zwischen beide Arme gebettet habe ich sie gefunden.
Sie sah richtig tot aus.

Aber ich fühlte mich auch zu ihr hingezogen. Also kniete ich mich vor sie und legte meine Hand auf ihren Rücken. Der war etwas warm und ziemlich hart und unbeweglich. Die Schultern auch. Der Kopf wirkte klein und die Haare waren sehr weich. Im Nacken habe ich die stärkste Wärme gespürt.

So saß ich eine Weile. Und immer, wenn ich meine Hände zu mir genommen hatte, kam doch wieder der Impuls, sie auf ihren Rücken zu legen.

Ich hatte das Gefühl, dass sie zwar tot war, gleichzeitig aber auch anwesend und sehr präsent. So als könnte sie doch spüren, dass ich bei ihr war.

Jetzt merkte ich, wie eine starke Energie in Bewegung kam. Unter meinen Händen war Tod und Lebendigkeit pur. Es gab ein intensives Fließen und eine unglaubliche Kraft.
Voller Unverständnis und Respekt ließ ich los. Ich hatte einen starken Kontakt und Energie gespürt, wo meine tote Großmutter lag. Das war unmöglich. Wieso spüre ich Leben, wo gar keines ist? Ist mein ganzes Spüren nur in mir selbst? Und gar nicht echt?

Oder was?

Also schaute ich ihr zu. Und es war, als gäbe es ein sanftes Fließen zu ihrer Nasenspitze hin, vielleicht auch zur Nasenwurzel und zum Mund. Als würde die Seele in den Raum gehen. Seele als leichter Stoff, der sich in die Luft mischt. Gas oder Energie ohne Form und mit wenig Substanz, eher leicht und verteilt.

Als ich meine Hände noch einmal auf sie legte, um zu prüfen, war dort weiterhin viel Leben unterwegs.

Meine Schwester meinte dann, es sei ja eine Katastrophe für die Darmflora, wenn ein Mensch stirbt. Und ich habe ihr erzählt, wie die Zellen und Muskeln Energie speichern, die nach dem Tod frei wird und sich dann die Muskeln verkürzen.

Meine Eltern, meine Schwestern, meine Tochter waren inzwischen da. Ich habe gekocht, und wir haben gemütlich gegessen.

Meine Großmutter hatte ich mit ihrer Kuscheldecke zugedeckt, wir mussten aber doch ständig über sie steigen, wenn wir in Küche oder Bad wollten.

Es war ganz gut so. Und wir haben ein stilles Fest mit ihr gefeiert, als meine Großmutter gestorben war.

Relevanz für die Körperarbeit:

Die allermeisten Körperzellen leben noch, wenn ein Mensch gerade gestorben ist. Ich nehme an, dass auch die Nerven noch für eine Zeit Impulse senden. Es fließen also noch physikalische Ströme und es finden chemische Reaktionen statt. Das gesamte Mikrobiom (Haut, Darm, …) lebt auch. Der Körper ist in einer besonderen Situation, in einer Krise.

Meine Einschätzung:

• In der Krise sendet das System verstärkt Impulse und reagiert besonders empfindlich.
• Offensichtlich ist es möglich solche (oder andere?) Lebensprozesse wahrzunehmen, ohne dass es unbedingt der Atmung, Bewegung oder des Pulses als Indikator für Veränderung und „Lebendigkeit“ bedarf.
• Ich kann mit einem eben verstorbenen Menschen in Resonanz sein.
• Neben der rational erfassbaren und handhabbaren Situation hatte meine subjektive Wahrnehmung Bedeutung. Es ist für mich nicht nötig, den objektiven Wahrheitsgehalt meiner Erfahrung zu erforschen, weil das freie Erleben in der Resonanz bereits echt ist. Ich kann mich aber später fragen, ob oder wie ich das Erlebnis interpretiere.

Berührung der Seele

Ein guter Freund, der von der Erfahrung mit dem Tod meiner Großmutter wusste, sagte irgendwann zu mir: Du kannst mich gern benutzen.

Das ließ mich stutzen: Wofür soll ich dich benutzen?

Für deine Experimente.
Mein Fragezeichen blieb. Er war Ende sechzig. Ich wusste nicht; aber er wusste, dass er bald sterben würde.

Zufällig oder nicht geschah es, dass ich zu ihm kam und ein weiteres „Experiment“ stattfand.

Und direkt in dem Moment klingelt mein Telefon. Ein Arzt sagt mir, du bist gerade gestorben.

Eine halbe Stunde später sehe ich dich. Wir sind allein in einem Trauerraum im Krankenhaus. Du siehst friedlich tot aus. Deine Hände sind auf dem Bauch gefaltet. Dein Mund scheint zu lächeln.

Du fühlst dich sehr warm an und bist weich, entspannt und beweglich. Ich lasse meine Hand lange auf deinem Brustkorb liegen, berühre und bewege dich. Ohne Atem und ohne Herzschlag pulsiert immer noch viel Leben in dir.

Ich spreche mit dir. Spüre, dass du mich noch hören und auch mir noch antworten kannst; innerlich.

Du fragst mich um Erlaubnis zu sterben.

Ein leichtes Aufblitzen: Bin ich dann schuld? Ich antworte dir ehrlich, anders geht es gar nicht: Ja, es ist okay, wenn du sterben magst. Und wenn du doch noch leben willst, ist das auch gut. Du hast dich entschieden. Wichtig war nur diese Bitte um Bestätigung.

Nach einer Stunde gehe ich leise aus dem Raum, schließe die Tür. Da meldest du dich, du möchtest auch noch raus. Ich öffne die Tür einmal kurz, und du schwebst unsichtbar an meine Seite. Ich fasse dich an der Hand, und wir gehen zusammen. Immer geradeaus.

Ich möchte zu einer Freundin von dir laufen, weil sie telefonisch nicht erreichbar war. Du sagst mir, das sei Unsinn, sie sei gar nicht zu Haus. Ich meine, ich gehe trotzdem, weil ich nichts Besseres weiß. Also laufe ich, du schwebst. Es ist ein sehr kräftiges Gefühl an meiner Hand. Du erzählst mir wortlos Witze, und ich lache, auch mit ein paar Tränen, aber es ist herrlich! Aus Versehen gehe ich etwas knapp an einer Hauswand vorbei, das stört dich nicht. Du kannst sogar durch eine Passantin schweben. Und mit mir Schritt halten. Dann wirst du etwas leichter, wie ein Heliumballon an meiner rechten Hand. Du wirst irgendwann nach oben schweben, sagst du. Ich möchte dich noch ein bisschen halten.

Als ich am Nordufer bei der Freundin klingle, öffnet niemand. Ich schaue auf mein Handy, das hatte ich im Krankenhaus lautlos gestellt. Mehrere Nachrichten.

Um besser mit meinem Gerät hantieren zu können, muss ich dich loslassen, habe aber Angst, dass du nach oben wegfliegst. Ich klemme dich ganz sanft zwischen meine Zähne.

Dann rufe ich verschiedene Leute zurück. Telefoniere.
Habe dich einfach vergessen. Da warst du weg.

Relevanz für die Körperarbeit:

In den Tagen vor dem Tod habe ich diesem Freund Fußbehandlungen gegeben. Danach haben mich die Füße und Beine gar nicht mehr interessiert.
Bei der Seiki-Behandlung nach dem Tod waren für mich die Hände, das Brustbein und das rechte Schlüsselbein interessant. Ich habe auch Kenbiki (Schwingen) am Brustkorb benutzt.
Die Freundin, die eine Stunde später bei ihm war, meinte, er wäre nicht mehr in seinem Körper gewesen, das hätte sie am Brustbein erkannt.
• Was auch immer die Seele in der religiösen oder nichtreligiösen Vorstellung sein kann, ich glaube: Die Seele ist das, was berührt und was wir berühren, wenn wir in Resonanz gehen.
• Das Leben zieht sich hier zuerst aus den Füßen zurück, und entweicht später aus dem Brustkorb / Brustbein.
• Körperarbeit ist vor der Geburt und nach dem Sterben genau wie im Leben möglich und relevant.
• Es gibt viele Aspekte von Leben, die nicht immer zur gleichen Zeit am gleichen Ort sind.

Berührung im Leben

• Mit den Menschen und Wesen, die in diesem Text auftauchen, war ich emotional sehr verbunden. Das war jedoch für die Erfahrungen nicht zwingend nötig.
• Ich habe mich für die Erfahrungen mit dem ungeborenen Leben und dem Tod geöffnet, war neugierig, ohne mich auf etwas Bestimmtes zu fokussieren.
• Besonders war für mich die absolute Klarheit des Kontaktes und das pure Gefühl von Resonanz.
• Ich denke, dass die gleichen Qualitäten von Berührung in allen Begegnungen stattfinden.
• Ich kann die Resonanz gemeinsames Schwingen nennen, Verbundenheit oder Liebe. Wenn ich diese Resonanz mit meinem Geist auffange, entsteht eine reflektierte subjektive Wirklichkeit.
• Ich denke auch, es ist immer möglich, diese Resonanz zu spüren.
• Meist ist die Resonanz überlagert von Handlungen, Ideen, Gedanken, Bewegung, Atmung, Herzschlag.
• Resonanz, die sowieso auftritt, kann sich über diese Lebensfunktionen ausdrücken, kann aber auch pur erfahren werden.

Ich will meine persönliche Erfahrung zeigen und mit diesem Text berühren – nicht um betroffen zu machen, sondern um die interessierte Vorstellung vom Tod ins Leben einzubeziehen. Das Leben vor der Geburt und das Sein im Tod sind nur Beispiele für unsichtbare Zustände, die wir im Leben mal mehr oder weniger vergessen, die deshalb nicht weniger real sind. Mitunter ist es gut, pragmatische und spirituelle Erkenntnis zu verbinden.

Zum anderen möchte ich auf die Möglichkeit hinweisen, dass Lebendigkeit ganz rein wahrgenommen werden kann. Die Konzentration auf den Atem, in der Körperarbeit ein wichtiges Werkzeug, lenkt mich oft von einem offenen inneren „Resonanz-Gespräch“ ab. Das schmälert nicht die Relevanz aller Techniken, die den Atem, Gewebespannung, Puls etc. einbeziehen, ist aber davon abzugrenzen.

Berührung ist ein geeignetes Kommunikationsmedium für Resonanz mit dem Unsichtbaren. Unter diesem Gesichtspunkt wirken meine geschilderten Erfahrungen zurück auf meine alltäglichen Berührungen und auf meine Körperarbeit. Ich vertraue auf die Resonanz, die ich spüre. Ich erlaube ihr, in mir zu einer Wirklichkeit zu werden. Gleichzeitig hat der Umgang mit meiner subjektiven Wahrnehmung aber eine Leichtigkeit bekommen. Ich kann die Informationen, die ich bekomme, annehmen, hinterfragen und auch bedenkenlos wieder ziehen lassen. Ich kann mitentscheiden, wie in jedem Gespräch, das ich führe.

Und letztlich ermutige ich jede Leserin, ihre individuelle Erfahrung wertzuschätzen. Finden wir Klarheit in unserer Resonanz und haben einen reflektierten Umgang damit, sind wir weniger abhängig von der Wahrheit anderer.

 

Maria Illgen, Shiatsu-Praktikerin GSD, Berlin, 2020
Kontakt: mail@shiatsu-rixdorf.de
www.shiatsu-rixdorf.de

Erschienen im GSD Shiatsu Journal Nr. 103, 2020

 

Berührung vor der Geburt und nach dem Sterben
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